Architektur Spurensuche: Görlitzer Moderne 1910 -
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Görlitz ist die östlichste Stadt Deutschlands und Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises Görlitz. Görlitz gilt als Kleinod Europäischer Städtebaukunst – ein Ensemble von der Gotik über die Renaissance, Barock und die Gründerzeit.
Nach der Jahrhundertwende galt Görlitz auch als Spielwiese für Architekten wie Gerhard Röhr und Alfred Hentschel, Baumeister wie Oscar Voigt, Julius Grosser, Franz Grunert und August Kaempfer. Sie verwirklichten hier ihre Ideen für moderne Wohn- und Geschäftshäuser, Siedlungs- und Industriebauten, lassen dabei Anregungen aus Berlin und Breslau einfliessen und prägen das Gesicht der Stadt der Zeit.
1911 wurde die für die jüdische Gemeinde gebaute Neue Synagoge feierlich eingeweiht. Zwei angesehene Architekten, William Lossow und Max Hans Kühne aus Dresden, hatten den imposanten Sakralbau in Formen des Neoklassizismus und Jugendstils entworfen, der das Selbstbewusstsein und die gesellschaftliche Anerkennung der Gläubigen zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentierte. Überragt von einem quadratischen Turm, prägten mächtige Lisenen, hohe Portale und ein Thermenfenster die reich verzierte Eingangsfront. Im zentralen Innenraum, der nach einer Beschreibung der Deutschen Bauzeitung aus dem Jahr 1909 „als kreisrunder Tempel in wirkungsvolle Erscheinung tritt“, schmückt Marmor in unterschiedlichen Farbtönen Kanzel und Almemor, und die Kuppeldecke ist ebenso farb- wie symbolreich ausgemalt. Technisch innovativ war die Konstruktion mit Stahlskelett und Beton. Bildquelle: Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/moderne_bauformen1911/0351
Nach umfangreicher Sanierung wird das Gebäude im Mai 2021 der Öffentlichkeit über-geben. Die Jüdische Gemeinde in Görlitz gilt seit dem 2. Weltkrieg als ausgelöscht. mehr
Weithin sichtbar, ist die Kreuzkirche ein Beispiel deutscher Architektur des beginnenden 20. Jahrhunderts, erbaut in den Jahren 1913-1916, das in ausgewogener Form Jugendstil, neoklassizistische und moderne Elemente in sich vereint.
Neue Wege geht die Architektur der 1920er und 1930er Jahre in der Stadt Görlitz
Mit Unterbrechung in Folge des 1. Weltkrieges, entstanden im Zuge der Stadtentwicklung neue Siedlungen, Wohn- und Geschäftshäuser, Industriebauten, kommunale und soziale Infrastruktur werden ausgebaut.
Baueisen und Eisenkonstruktionen der Ephraim Eisenhandlung fanden Verwendung für bekannte Görlitzer Neubauten vor 1914. Krankenhaus, Neue Kaserne, Ruhmeshalle, Aktienbrauerei, Stadthalle, Kaufhaus, Stadttheater. Die Hallenanlage am Schützenhaus entstand 1920/21 im Stil des späten Jugendstils für die Ephraim Eisenhandelsgesellschaft
Das Produktionsgebäude, gebaut 1923, der Optisch-Mechanische-Industrie-Anstalt Hugo Meyer & Co., Görlitz auf der Fichtestraße trägt die Handschrift von Alfred Hentschel. Mit Gründung im Jahre 1896 konnte das Görlitzer Unternehmen bereits sehr früh mit innovativen, hochwertigen Objektiven aufwarten und dies selbst im geteilten Deutschland viele Jahre fortsetzen. 1923 bezieht Meyer Optik das stattliche Fabrik-gebäude auf der Fichtestrasse in der Görlitzer Südstadt. Der VEB Feinoptisches Werk kann an die Erfolge anknüpfen. Das Bild stammt aus der Chronik 70 Jahre Meyer Optik. (1966)
Görlitz verdankt dem Architekt Alfred Hentschel (1880 - 1954) eine Reihe von Großbauten wie zum Beispiel auf dem eh. Consum-Verein Gelände, Erweiterungen auf dem Areal der
Landskronbrauerei, die "Optisch-mechanische Industrieanstalt Hugo Meyer & Co" (Fichtestraße), das Direktionsgebäude der eh. Disconto-Gesellschaft (Berliner Straße 62), Villen auf der
Reuterstrasse, Beethovenstrasse. Wohngebäude in der Siedlung Pestalozzistrasse/Fröbelstrasse und auch das Verwaltungsgebäude der Firma Ephraim Eisenhandel (Bild oben) in der Südstadt gehören
dazu. Foto Bestand Ratsarchiv Görlitz
Vielbeachtet wurde der Bau des Handelshofes 1925 nach Entwürfen des Görlitzer Architekten Gerhard Röhr (1859-1930) auf der Hospitalstraße. Der Baustil der 1920er, in dem oft auch die Siedlungshäuser errichtet wurden, verwendet wieder sachlichere Formen. Erstmals in der Architektur verschmolzen Fassade und Räume zu einer planerischen Einheit, die Gestaltung und Nutzung der Räume ist an der Fassade ablesbar. „Form follows Function“ war die neue Devise.
Eine Traditionsstätte der Görlitzer Arbeiterbewegung war das Volkshaus auf der Mittelstrasse / Dr. Friedrich Straße. Das Hinterhaus entsteht nach Plänen des Architekten Alfred Hentschel 1925 als Viergeschossiges Bürogebäude mit expressionistischen Details. Das Görlitzer Volkshaus lag in direkter Nachbarschaft des Gebäudes der Arbeiterdruckerei, Redaktion und Druckerei der Volkszeitung.
Bauherr der Reparatur-Werkstatt im Hinterhof auf der Konsulstraße 19 war der Görlitzer Kaufmann Curt Lustig, der Entwurf vom Architekt BdA R. Georg Marschall. Gebaut 1925 im Stil des Neuklassizismus, im Zuge der wachsenden Mobilität und der zunehmenden Zahl von Automobilen. Die Werkstatt mit Montageanlagen im Untergeschoss ist ein Symbol im Stadtbild für den Fortschrittsgeist der 1920er Jahre. Überall in der Stadt wachsen neue Industrie und Verkehrsarchitektur. Curt Lustig Automobile, später die Mercerdes-Werkstatt von Richard Rauh übernahm Herbert Klische nach dem Krieg. "Diese führte er bis 1959 als solche weiter in dem er Mercedes Taxis, die in Görlitz noch reichlich fuhren, reparierte. Durch die politischen Umstände veränderte sich jedoch auch die Automobile Landschaft und er übernahm einen Skoda Vertrag." Quelle: Skoda Autohaus Klische Görlitz Inh. R.Kohli
Dank der großen Nachfrage entwickelte sich die Christoph & Unmack AG, Niesky in den 1920er Jahren zum bedeutendsten Holzhausproduzenten in Europa. Auch in Görlitz hat der Bauboom des Unternehmens seine Spuren hinterlassen. Der Holzpavillon auf der Heilige-Grab-Straße stammt aus den 1920er Jahren, der massive Unterbau war ursprünglich ein Wasserbehälter der auf der anderen Seite gelegenen Tuchfabrik Bergmann und Krause an der Lunitz.
1926 wurde das Feuerwehrensemble durch die Errichtung eines Feuerwehr-Achtfamilienhauses auf der Gobbinstrasse 12 vervollständigt. Gegenüber auf der linken Strassenseite das Gebäude des eh. Arbeitsamtes. Gebaut 1936.
Der Bau der ehemaligen Konsumbäckerei auf der Rauschwalder Strasse begann 1926. Im Erweiterungsbau wird im März 1927 der Betrieb aufgenommen. Damals war das der modernste Bäckereibetrieb in Niederschlesien. Als Architekt wirkte Alfred Hentschel.
Die Stil-Merkmale des Art déco sind genauso ambivalent wie die Epoche. Das Hotel Vier Jahreszeiten am Bahnhof mit spannenden Einblicken in die Lobby. Die Lobby, 1927 neu eingerichtet im Art Deco Stil, beeindruckt durch eine hochwertige Keramikausstattung und die allegorischen Frauenreliefs die in leicht frivoler Pose die vier Jahreszeiten darstellen. Auch in weiteren Räumen haben sich Teile der Ausstattung der 1920er Jahre und früherer Jahrzehnte in eindrucksvoller Qualität erhalten. Foto ©goerlitz21
Ein Projekt in Görlitz widmet sich im Bauhausjahr Herbert Hirche (1910-2002)
Es ist eine Wiederentdeckung und Bauhaus-Spurensuche in Görlitz: Herbert Hirche zum 110. Geburtstag. Das Jubiläum „100 Jahre Bauhaus“ bot Anlass, diesen weniger bekannten Aspekt in den Blick zu nehmen.
PROF. HERBERT HIRCHE
geb. 20.05.1910 in Görlitz
gest. 28.01.2002 Heidelberg
Durch seine Mitgliedschaft im Deutschen Werkbund (1950), bei dem er schon seit 1946 mitgearbeitet hat, im Verband Deutscher Industrie-Designer (1959), dessen Präsidentschaft er von 1960 bis 1970 übernimmt, und auch im Rat für Formgebung (1961) übt Hirche einen großen Einfluss auf das Design und die Architektur der 50er, 60er und 70er Jahre aus. Er entwarf Möbel, anspruchsvolle Industrieprodukte und Radio- und Fernsehapparate für die Firma Braun.
Die Familie Hirche hatte auf der Hohe Straße 15 in der Görlitzer
Innenstadt-West ihr Zuhause. Das Haus steht heute nicht mehr. Foto Messbildstelle
Dresden, 1987
Eigentümer: Deutsche Fotothek
Das Gründerzeitensemble Heilig-Grab-Straße / Hohe Straße hatte noch bis 1989 Verluste zu erleiden. Das Geburtshaus Herbert Hirches
wurde abgerissen.
Entstanden ist ein Plattenbau. Auf Höhe der alten Straßennummer 15 wird eine Gedenktafel und
Installation zum Andenken an das Leben und Werk Herbert Hirches angebracht.
Bild: Hohe Straße Nr. 15, 02826 Görlitz
Nach Tischlerlehre in Görlitz und Wanderschaft in den Jahren 1924 bis 1929 studierte der in Görlitz geborene Herbert Hirche von 1930 bis 1933 am Bauhaus in Dessau und in Berlin.Zu seinen Lehrern gehörten unter anderem Wassily Kandinsky und Ludwig Mies van der Rohe
Herbert Hirche hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des Produkt- und Einrichtungsdesigns in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, wo er die Ideen und den Stil der Bauhaus-Lehre einbrachte.
Neben Herbert Hirche gehört Edmund Körner zu den bedeutsamen Architekten der #Moderne, die Görlitz hervorgebracht hat. Die Spuren des Architekten Edmund Körner finden sich zum Großteil im Rheinland. Das erste Gebäude der Ford-Werke in Köln, die Halle A aus dem Jahr 1931 ist vor einigen Jahren zum Industriedenkmal gekürt worden. Als Hauptwerk Edmund Körners gilt die 1913 vollendete Neue Synagoge mit dem Rabbinerhaus in Essen. Geboren wurde Edmund Hermann Georg Körner am 2. Dezember 1874 in Leschwitz. Heute Weinhübel, ein Stadtteil von Görlitz.
Durch Körners umfassende Verbindungen – er war u.a. Mitglied des Bunds Deutscher Architekten (BDA), der Freien Deutschen Akademie für Städtebau, des Deutschen Werkbunds (DWB) – flossen zahlreiche Einflüsse der klassisch-modernen Architektur in seine Bauten ein, darunter auch Elemente des Backstein-Expressionismus und des Neuen Bauens im seinerzeit aktuellen Bauhaus-Stil.
Als Arbeitsamt 1936 entstanden, ist auf der Gobbinstraße seit vielen Jahrzehnten das Polizeirevier Görlitz in einem Bau der Moderne präsent. Ein weiterer Gebäudeflügel wurde damals nicht mehr umgesetzt.
Das „Rüdiger“ auf dem Wilhelmsplatz war lange Jahrzehnte eine Tradionsstätte. Die A. Rüdiger GmbH betrieb mehrere Görlitzer Lokale, darunter seit 1936 das im extra dafür umgebauten, 1858 errichteten „Peters Hotel“, auch als „Wilhelmshallen“ bekannt. Das denkmalgeschützte Haus wurde 1936 in der Formensprache des dritten Reiches umgebaut, ist in dieser reinen Form nur noch selten zu finden. Im Erdgeschoss keramikverkleidet, verziehrt mit den Olympischen Ringen und der Jahreszahl 1936, finden sich am ersten Obergeschoss vier Konsolfiguren.
Für Görlitz war es trotz angespannter wirtschaftlicher Situation nach dem 1. Weltkrieg 1914-1918 eine Zeit, in der die Stadt ihren Ruf als Pensionopolis des Ostens, Park- und Gartenstadt weiter festigte und ausbaute. In neuer Sachlichkeit wuchsen Siedlungsbauten 1920/1927 am Hirschwinkel, 1927/1931 Reichertstrasse/Frauenburgstrasse, Melanchtonstrasse, Daniel-Rich-Strasse und Johannes-Hass-Strasse, 1929 Pestalozzistrasse, 1930/31 Zeppelinstrasse/Lilienthalstrasse/Parsevalstrasse, 1932/1934 Landskronsiedlung, 1935/36 Im Bogen, 1936/37 Büchtemannstrasse. Mit Erfahrungen 1909 aus der Entwicklung der Gartenvorstadt Rabenberg und mit neueren Erfahrungen aus dem Reihenhaussiedlungsbau entstand 1929/1938 die Anlage der Gartenstadtsiedlung am Georg-Wiesner-Park.
Reichertstrasse, Görlitz Südstadt. Architekturbüro Pantke und Keidel. Foto Ratsarchiv Görlitz
Siedlung Pestalozzistraße, Fröbelstraße, Biesnitzer Straße, Architekt Alfred Hentschel
Moderne, bezahlbare Wohnungen mit Küchen, Bädern und Balkonen, in Häusern ohne Hinterhof und Seitenflügel, dafür mit Licht, Luft und Sonne entstanden. Bild oben: Frauenburgstrasse Moderne Bauten wurden in den 1930er Jahren entlang der Hermsdorfer Strasse (heute Ulica Bohaterów II. Armii Wojska Polskiego) in der Görlitzer Oststadt errichtet. Nach aufwendiger Sanierung erstrahlt das Ensemble in ganz neuem Licht.
Die Häuser der Frauenburgstraße mit den Hausnummern 70, 72, 74-86 und 88, auch „Scheunenviertel“ genannt, wurden zwischen 1930 und 1932 von der Görlit-zer Siedlungs-Gesellschaft m. b. H. errichtet. Bis heute dient der Bau der Siedlung als architektonisches Zeugnis für den sozialen Wohnungsbau in den 1920/30er Jahren in Görlitz.
Siedlungshäuser Im Bogen
Ein Projekt des Netzwerk Industriekultur Görlitz c/o goerlitz21 e.V.
Im Sinne einer Spurensuche versteht sich die Reihe als unabgeschlossenes Projekt.
Man hofft auf weitere spannende Entdeckungen.
Gefördert wird das Projekt durch das Sächsisches Staatsministerium für Regionalentwicklung und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.